Jagd als Kulturerbe – Kultur, Keime, Kosten

Was ist Kultur, was ein Kulturerbe in der Jagd? Wer von uns Jägern ist Kulturträger? Auf diese und weitere Fragen zum Thema gibt Alexander Schwab Antworten.

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Beizjäger: Seit 2014 ist sein Tun im „Bundesweiten Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes“ gelistet. Dieser Status würde auch der viel älteren Jagd an sich gut zu Gesicht stehen. Denn dann wäre unser aller Tun offiziell ein erhaltenswertes Kulturgut. Foto: Bildagentur Schilling

Kultur“ ist ein weites Feld. Das Wort geht auf lateinisch cultura zurück. „Cultura“ bedeutet „Bearbeitung“, „Pflege“ und auch „Ackerbau“, und diese Bedeutungen sind auch im modernen Begriff „Kultur“ mit enthalten. Kultur bezieht sich umfassend auf menschliche Leistungen und ist immer das Ergebnis einer Kombination von Boden- und Geistesnutzung. Das gilt zum Beispiel auch für moderne Kunst: Selbst der abgefahrenste und losgelösteste urbane Performancekünstler muss sich irgendwie ernähren und ist zumindest auf diese Weise in einer Form geerdet. Die Jagdkultur verfügt Kraft ihres Wesens über mehr Bodenhaftung als moderne Kunst und bewegte sich darum vielleicht etwas gemächlicher im Rahmen der gewaltigen gesellschaftlichen Veränderungen und technologischen Entwicklungen der letzten sechzig Jahre. Aber sie bewegt sich, und sie muss sich bewegen, will sie ihre Kernwerte sicher durch das 21. Jahrhundert bringen. Der Gestaltung der Tradition könnte dabei eine wichtige Rolle zukommen.

JAGD ALS KULTURERBE

Jäger blasen das Hörner

Jagdhornblasen: eine Tradition und damit etwas Wertvolles, weil es Kontinuität schafft, indem es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verknüpft. Zudem dient es der Verständigung, ist also wichtig. Foto: Michael Migos

„Kulturerbe“ ist, zumindest institutionell, eine Erfindung der UNESCO und nennt sich in der Originalsprache „cultural heritage“. Das englische „heritage“ ist etwas dehnbarer als das deutsche „Erbe“, deshalb kann man zum Beispiel von „heritage tomatoes“, also von „Erbtomaten“ sprechen. Auf Deutsch wären das vielleicht eher „traditionelle Tomatensorten“. Wenn hier von Erbe die Rede ist, dann im Sinne von Gut, Tradition und Überlieferung. In Sachen UNESCO-Kulturerbe wird zwischen materiellem und immateriellem Kulturerbe unterschieden. Das materielle Kulturerbe bezieht sich auf Greifbares, also im Falle der Jagd auf Objekte wie Bauten, Bilder, Dokumente, Waffen, Trophäen, Schmuck und vieles andere mehr. Das immaterielle Kulturerbe bezieht sich laut UNESCO auf mündlich überlieferte Traditionen sowie Ausdrucksweisen, einschließlich der Sprache als Träger immateriellen Kulturerbes; auf darstellende Künste; auf gesellschaftliche Praktiken, Rituale und Feste; auf Wissen und Praktiken im Umgang mit der Natur und dem Universum sowie auf Fachwissen über traditionelle Handwerkstechniken.

Das passt doch zur Jagd wie die Faust aufs Auge! Tatsächlich hat die Republik Tschechien die Jagd als nationales Kulturerbe anerkannt (2011), und in Deutschland gehört die Beizjagd seit 2014 in das „deutsche Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes“. Warum aber „nur“ die Beizjagd? Wäre es nicht ein schönes strategisches Ziel der Jägerschaft – nicht nur in Deutschland –, die Jagd als Kulturerbe oder Kulturgut festzuschreiben, nach tschechischem Vorbild?

Größere Gruppe von Jäger in Warnwesten laufen über Feldweg

Geselliges Jagen: einst in Grün, heute in Orange. Wenn nötig, werden Traditionen weiterentwickelt.Foto: Michael Breuer

ERFINDUNG DER TRADITION

Die Jagdkultur ist die Gesamtheit aller jagdlichen Leistungen aus Vergangenheit und Gegenwart im materiellen wie im immateriellen Bereich. Die Jagdkultur, also eben Handwerk, Brauchtum, Literatur, Kunst oder Sprache, ist regional verschieden ausgeprägt. Die Jäger in Berlin oder Wien beispielsweise pflegen ihre Sprache wesentlich intensiver als ihre Kollegen an der Peripherie, zum Beispiel in Bern. Trotzdem aber bleibt die Sprache eine Gemeinsamkeit, genauso wie das Streben nach Waidgerechtigkeit oder Bräuche wie der letzte Bissen. Die Erben, das sind wir alle, jeder einzelne Jäger ist ein Erbe der Tradition. Aber woher kommt sie?

Jede Tradition, jeder Brauch ist irgendwann einmal erfunden oder eingeführt worden. Man könnte meinen, die Hubertusmesse in Deutschland gäbe es schon ewig, tatsächlich aber hat sie sich erst in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts verbreitet. Es geschieht auch, dass Traditionen oder Heilige in Vergessenheit geraten, zum Beispiel der Heilige Martin als Schutzpatron der Jäger (speziell in Österreich). Brauch, Sitte, Überlieferung, all das kommt keineswegs aus dem Nichts, war demnach nicht immer so. Eines der frappantesten Beispiele für eine Traditionserfindung ist der Schottenrock: Schottische Nostalgiker beharren darauf, dass der Kilt seit Urzeiten die schottische Nationaltracht sei. Belegt ist der Kilt aber erst seit dem 17. Jahrhundert, und es spricht viel dafür, dass ihn ein Engländer erfunden hat.

VON TRADITION ZU KEIMEN

Der wesentliche Punkt dieser Überlegungen ist, dass Tradition nicht in Stein gemeißelt sein muss, sondern dass man sie gestalten kann und soll. Sie ist etwas Wertvolles, weil sie Kontinuität schafft, indem sie Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart miteinander verbindet. Die Tradition schafft Identität, indem sie Werte vermittelt. Sie schafft Sicherheit, indem sie Orientierungshilfe bietet, und sie schafft Kommunikation überall dort, wo sie sichtbar ist. Und damit kommen wir vom mehr oder weniger unverbindlichen Betrachten zum Praktischen. Tradition schafft Kommunikation, aber aus der Palette der Kultur der Jagd erreichen den urbanen Menschen im Wesentlichen nur drei Bereiche: die Artenvielfalt, weil sie mittlerweile ein allgegenwärtiges Schlagwort ist, die Musik und die Nahrung (Genuss). Und hier kommen die Keime ins Spiel.

Strecke legen, Ansprache halten, Erlegerbrüche überreichen, Strecke verblasen, all das braucht Zeit, und bei warmem Wetter freuen sich auch Keime und Bakterien über den Jagderfolg. Sollte es nicht eh so sein, dass das aufgebrochene Wild auf dem schnellstmöglichen Weg in die richtig temperierte Wildkammer kommt? Sollte man nicht auf das Streckelegen verzichten oder eine neue Tradition erfinden? Für den nichtjagenden Endverbraucher wäre das ein Gewinn, für die Jagdkultur oder Tradition aber ein Verlust. Und nicht nur das. Das Gemüt des Jägers leidet, wenn er alles auf wissensbasierte Effizienz ausrichtet. Wenn ihm bei warmem Wetter allerdings schon während des Aufbrechens die Fliegen um den Kopf schwirren, ist halt trotzdem Eile und nicht Weile angesagt. Doch zurück zur Kultur.

DER VIELSEITIGE AMATEUR

Altjäger zeigt Jungjäger etwas auf einem Feld.

Weitergabe von Tradition: Voraussetzung für deren Wahrung und womögliche Weiterentwicklung. Foto: Anna Lena Kaufmann

Der Jäger ist ein Amateur (Liebhaber), der dafür bezahlt, eine professionelle Leistung mit Kultur zu erbringen. Von dieser Leistung profitiert auch die Allgemeinheit – nicht nur, aber eben auch. Der volkswirtschaftliche Nutzen der Jagd ist keineswegs zu unterschätzen – in Deutschland wird dieser auf deutlich über 4,5 Milliarden Euro beziffert. Wir sagten, der Jäger sei ein Kulturträger. Und das bezieht sich nicht nur aufs Brauchtum, sondern ist auch folgendermaßen zu verstehen: Er arbeitet, weil er Jäger ist, neben seinem „zivilen“ Beruf zum Teil auch als Kynologe, Tierarzt, Metzger, Koch, Wildbiologe, Büchsenmacher, Förster, Naturschützer, Botaniker, Bauer, Mechaniker, Musiker, Betriebswirtschafter, Ökologe, Ornithologe, oder Lehrer. Wie ist das gemeint?

Je nach Revier, Umständen und Veranlagung muss der Jäger auf diesen Gebieten so weit im Bild sein, dass er sich orientieren kann und weiß, was zu tun oder zu veranlassen ist. Im Zeitalter des Spezialisten- und Expertentums muss jemand verdächtig sein, der so vielseitig interessiert und versiert ist – und dann bezahlt er auch noch dafür! Da stimmt doch etwas nicht, oder?

EIN GEDANKENSPIEL

Ohne einen besonderen kulturellen Anspruch erbrächte auch der beamtete Berufsjäger all diese Leistung (außerdem wäre er nicht verdächtig), zugleich aber würde er die Allgemeinheit ungeheuer viel Geld kosten. Und was wäre mit der Kultur der Jagd? Machen Sie folgendes Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, die Jagd würde morgen abgeschafft, alle jagdlichen Aufgaben würden ab sofort Berufsjäger übernehmen. Das hieße, ab morgen wäre die Jagd für Sie endgültig vorbei. Und nun stellen Sie sich folgende Fragen: Was passiert mit der Jagdkultur? Wer nimmt warum einen Verlust wahr, und wer bewahrt was und warum? Dabei lautet die wesentliche Frage: Was passiert mit mir? Fragen Sie sich schonungslos offen, was es für Sie bedeuten würde, wenn es morgen vorbei wäre mit der Jagd, und versuchen Sie, das in eigene Worte zu fassen. Sie werden entdecken, dass es nicht so einfach ist. Selbstverständlich können Sie fragen, was die Nabelschau soll.

Die Antwort lautet: Sie schärft Ihren Blick auf das, was Sie zu verlieren haben und bewahren wollen. Sie erkennen Ihre Werte und den Stellenwert der Jagdkultur. Dieses Wissen können Sie anwenden, denn es sei noch einmal gesagt: Jeder Jäger ist Kulturträger, und somit sind auch Sie Botschafter der Jagd, und als solcher müssen Sie sich fragen, was Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten dazu beitragen können, die Erhaltung, Akzeptanz und das Ansehen von Jagd und Jagdkultur zu fördern.

Jäger trägt getötetes Wiesel und Falle durch verschneiten Wald.

Fangjäger: Sein Schaffen – heute mit Abzugeisen, einst mit Fallgrube – gehört zu den ältesten Jagdmethoden der Menschheit überhaupt. Die- ses durch Verbote zu unter- binden, ist ein Verbrechen an unserer Kultur. Foto: Jens Krüger

GESTALTEN VON TRADITION

Tradition gestalten heißt nicht, alles über den Haufen zu schmeißen oder sich jedem Zeitgeistfurz anzupassen. Tradition gestalten heißt vielmehr zu versuchen, Kernwerte unter veränderten Bedingungen und Erkenntnissen zu erhalten. Das gelingt nur dem, der offen ist für Neues. Wer seiner Werte sicher ist, braucht das Neue nicht zu fürchten. Zu den zentralen Werten der Jagdkultur gehört etwa die Waidgerechtigkeit. Ihr Kern geht durch neue Erkenntnisse, Einsichten und entsprechende Anpassungen nicht verloren. Im Gegenteil. Und so gilt auch für die Jagd: „Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.“