Territorialverhalten beim Wild – My home is my castle

Welches Territorialverhalten zeigen unsere Schalenwildarten – und aus welchem Grund? Wildbiologe Burkhard Stöcker beantwortet all diese Fragen.

Aufmacher

Rehwild: Von allen Schalenwildarten zeigt es das ausgeprägteste Territorialverhalten. Mit Bezug des Reviers duldet der Platzbock keine Konkurrenz mehr. Foto: Torsten Lenz

Warum gibt es Territorien? Wann werden sie verteidigt? Was bestimmt deren Größe? Welches Territorialverhalten zeigen unsere Schalenwildarten – und aus welchem Grund? Wildbiologe Burkhard Stöcker beantwortet all diese Fragen.

Reviere und Territorien

Reviere und Terrritorien spielen auch in der Tierwelt eine alles entscheidende Rolle. Von einem Territorium sprechen wir, wenn ein Individuum, ein Paar oder eine Gruppe von Tieren gegenüber Artgenossen ein bestimmtes Gebiet dauerhaft oder für kurze Zeit beansprucht. Dieses Territorium, oder häufig auch Revier genannt, kann das gesamte Steifgebiet eines Individuums oder einer Gruppe umfassen oder auch nur Teile davon. Es erfüllt in der Regel bestimmte Anforderungen hinsichtlich Nahrung, Schlafplatz, Schlupfwinkel, Badestellen oder Kinderstuben.

Reviere werden aber nur dann abgegrenzt oder verteidigt, wenn der dadurch gewonnene Nutzen – Nahrung, Paarungspartner, Ressourcen im weiteren Sinne – größer ist als die Kosten, die mit der Verteidigung des Reviers verbunden sind. Man spricht hier vom sogenannten „ökonomischen Revier“ – auch hier muss die Bilanz stimmen, sonst kommt kein Re- vierverhalten auf.

Auch innerhalb einer Art kann es große Unterschiede in Raum und Zeit geben: Sind die Ressourcen günstig und die Lebensräume optimal, werden die zu verteidigenden Reviere kleiner – mehr Individuen der Art können die Fläche besiedeln. Nehmen die Ressourcen oder die Qualität der Lebensräume ab, werden die Reviere größer – die Individuenzahl pro Fläche nimmt ab. Ein Beispiel für dieses Verhalten begegnet uns tagtäglich im Rehwildrevier: Habe ich eine reich strukturierte Landschaft mit kleinen Wäldern, Hecken, Feldgehölze oder Brachland, finden sich dort wesentlich mehr Bockreviere pro Fläche als in der ausgeräumten Agrarlandschaft.

Die Nahrung ist bei der Revierwahl häufig der ausschlaggebende Faktor: Es konnte bei zahlreichen Tierarten nachgewiesen werden, dass die energetischen Kosten für die Revierverteidigung oft mit Leichtigkeit durch den Gewinn aus den Einsparungen durch die effektivere Nahrungsauswertung kompensiert werden konnten.

EINZEL- ODER GRUPPENBRUNFT?

Bei vielen der heimischen Tierarten wird nur zur Fortpflanzungszeit ein Revier verteidigt. Manche Männchen besetzen zur Balz- oder Paarungszeit Kleinreviere, die sich nicht durch herausragende Ressourcen auszeichnen. An diesen oft nur wenige Quadratmeter großen Plätzen sind dann meist mehrere Männchen versammelt. Die dominanten Männchen nehmen oft die zentralen Plätze dieser Balzarenen ein, die Weibchen suchen diese Plätze auf und paaren sich zumeist mit den zentralen, dominanten Männchen. Die Frage, nach welchen Kriterien – außer der zentralen Lage – die Weibchen sonst noch wählen, bleibt offen. Die Kriterien oder Kombinationen aus verschiedenen Kriterien variieren möglicherweise auch von Tierart zu Tierart.

Wenn der zentrale Platz auf den Balz- oder Brunftarenen, wie bei etlichen Arten erwiesen (Birkwild, verschiedene Antilopenarten, Damwild), wirklich zu einer höheren Paarungsrate führt, ist der Gewinn für die Männchen unzweifelhaft enorm. Es wird aber hierbei natürlich auch Kosten geben wie etwa die Gefahr, mit einer gut sichtbaren Balz oder Brunft Opfer eines Räubers zu werden. Dabei sind jedoch die dominanten Männchen, die in der Mitte brunften oder balzen, wahrscheinlich im Vorteil, da vermutlich die Individuen an den Rändern zuerst geschlagen werden.

Zwei Birkhähne im Kampf.

Gruppenbalz: Jeder Birkhahn verteidigt sein erobertes Areal auf der Arena oder versucht, ein besseres
zu ergattern. Foto: Inigo Gerlach

Auerhahn balzt.

Einzelbalz: hat sich beim Auerwild als vorteilhaft erwiesen, obwohl ein größerer Bereich zu verteidigen ist. Foto: Jürgen Gauss

Auf vielen Balzarenen scheinen Landschaft und Feindvermeidung eine bedeutende Rolle zu spielen. Arten, die im Offenen balzen, wählen die Gruppenbalz, da in offenem Gelände Feinde rechtzeitig von vielen Augen eher erkannt werden können. Arten, die in struktur- sowie deckungsreichen Landschaften balzen, scheinen eine Einzelbalz zu bevorzugen – eine Gruppenbalz wäre hier ein gefundenes Fressen für überraschend auftauchende Feinde. Birk- und Auerwild sind für diese beiden Gruppen schöne Beispiele: Erstere balzen auf großen Gruppenarenen in der offenen Moor-, Heide- oder Gebirgslandschaft, letztere vereinzelt in strukturreichen Wäldern.

ALLGEMEIN SCHALENWILD

Wollen wir das zum Teil unterschiedliche Territorialverhalten unseres Schalenwildes verstehen, führen wir uns erst einmal einen Grundsatz der Verhaltensökologie vor Augen: Tiere leben in der Regel in Gruppen, wenn die Ressourcen nicht vorhersehbar und nicht mosaikartig verteilt sind. Sind Ressourcen vorhersehbar und relativ gleichmäßig verteilt, vereinzeln Tiere sich und halten Abstand voneinander.

Zur letzten Gruppe gehört von unseren Schalenwildarten nur das Rehwild, die übrigen Arten gehören der ersteren Gruppe an. Um die Unterschiede zwischen den Arten zu erklären, sind die aktuellen Lebensräume unserer Kulturlandschaft kaum hilfreich. Wir müssen uns mit den Lebensräumen beschäftigen, in denen diese Arten entstanden sind, mit ihrer Geschichte also.

REHWILD

Die Art Reh hat sich entwicklungsgeschichtlich in eher tropischen Waldlandschaften entwickelt. Die Entstehungswelt zeichnete sich durch ein über das Jahr beständiges Klima und entsprechende Dauerressourcen aus. Die Umwelt war konstant und vorhersehbar. Die notwendige Äsung – eiweißreiche Pflanzen – war gleichmäßig verteilt. Rehe wurden revierbewohnende Einzelgänger.

Der Rehkenner Fred Kurt beschreibt sehr eingängig die Vorteile des Verhaltens territorialer Rehböcke: Sie verbrauchen weniger Energie als revierlose Böcke (nur Drohen und Imponieren, kaum Flucht oder kräftezehrende Kämpfe), kommen mit geringerem Markierungsaufwand aus (mehr Duftmarken, weniger Schlagen und Plätzen) und besiedeln nur einen halb so großen Wohnraum wie ein nichtterritorialer Bock (weniger „Reisekosten“).

Die Anpassungsfähigkeit unserer Rehe zeigt sich in der völlig anderen Strategie des die Agrarlandschaften bewohnenden Feldrehs: Die Territorialität erlischt im Winter nahezu völlig, der offene Agrarraum (Steppe) wird als Gruppe genutzt. Verhaltenskundlich scheint es fast, als wäre den Winter über eine neue Tierart entstanden.

ROTWILD

Rothirsch mit seinem Kahlwild in einer Wiese.

Rotwild: Der Platzhirsch verteidigt keine Fläche, sondern sein Kahlwild. Foto: Karl-Heinz Volkmar

Der „König der Wälder“ ist eigentlich eher ein „König der Waldsavanne“ – die Art ist vermutlich in lichten, parkartigen Wäldern und Steppen entstanden. In diesen Lebensräumen gab es vermutlich ausgeprägte saisonale Unterschiede wie Jahreszeiten, Steppenbrände oder Dürreperioden. Die Verfügbarkeit der Hauptäsung (Gräser) war nicht vorhersehbar und voraussichtlich auch nicht mosaikartig, sondern unregelmäßig verteilt. Savannentiere leben zumeist in Gruppen, da im offenen Lebensraum eine überwiegend optische Feindwahrnehmung praktisch ist: viele Augen sehen mehr als zwei. Territorialität ist hier, wenn überhaupt, nur vorübergehend ausgeprägt – so auch beim Rotwild. Von einer klassischen, stabilen Territorialität kann während keiner Zeit des Jahres gesprochen werden.

Selbst das sogenannte Territorialverhalten des Brunfthirschs ist eine „bewegliche Territorialität“, weil der Hirsch nur ständig dem Kahlwild folgt und keine Bindung an eine bestimmte Örtlichkeit zeigt. Er markiert zwar Suhlen, Bäume, Sträucher oder Geländepunkte, zeigt hier aber keinerlei Verteidigungsbereitschaft mehr, sobald das Kahlwild diese Räume verlassen hat. Ausnahmen scheinen aber hier die Regel zu bestätigen: Es wird gelegentlich von Hirschen berichtet, die zu Anfang der Brunft bekannte gute Brunftplätze verteidigen, obwohl noch kein Kahlwild präsent ist – mithin eine Art „vorausschauende Territorialität“.

Inwieweit es Revierverhalten zwischen benachbarten Kahlwild- oder Hirschrudeln oder deren Einständen gibt, vermag man im Moment kaum zu sagen. Da sich Rotwild jedoch in Großrudeln offenbar erst richtig wohl fühlt, kommt es zwischen sich begegnenden Rudeln gleichen Geschlechts eher zum – wenn auch meist nur vorübergehenden – Zusammenschluss als zu aggressivem Abwehrverhalten den anderen gegenüber.

DAMWILD

Damwild in einer Brunftarena.

Damwild: Die Schaufler beziehen auf der Brunftarena ihr Mini-Territorium und verteidigen dieses gegenüber anderen Hirschen. Foto: M. Migos

Während der meisten Zeit des Jahres ähnelt das Verhalten des Damwildes dem des großen, roten Bruders. Mit Ausnahme der Brunft. Beim Damwild beziehen die Hirsche kleine Brunftterritorien, die markiert und auch ohne die Anwesenheit von weiblichem Wild gegen Geschlechtsgenossen verteidigt werden. Die Tiere wählen dann zwischen den einzelnen Hirschen und Brunftterritorien aus – es herrscht also Damenwahl.

Im Grunde ist die Damwildbrunft eine klassische Männchenbalzarena wie beim Birkwild. Beim Rot- wie beim Damhirsch sind wahrscheinlich die Paarungsraten, der Gewinn aus dem Territorialverhalten der jeweils dominanten Platzhirsche, ähnlich – trotz der sehr unterschiedlichen Brunftstrategien. Woher die Unterschiede im Brunftverhalten beider Arten kommen, ist derzeit unbeantwortet.

SCHWARZWILD

Rotte Schwarzkitteln im Wald.

Schwarzwild: Das Territorialverhalten des Keilers gleicht dem des Rothirschs – rauschige Bachen werden verteidigt. Foto: Karl-Heinz Volkmar

Folgendes Territorialverhalten ist bekannt:

1. Der Ruheeinstand der Rotte. Aus diesem Gebiet werden fremde Artgenossen vertrieben. Dies gilt auch für den Wurfkessel der Bache, den selbst eigene Rottenmitglieder zu meiden haben. Das Streifgebiet der Rotte wird zwar auch geruchlich und optisch markiert, aber nicht gegen andere Rotten verteidigt. Es ist aber möglich, dass die rein optische und geruchliche Markierung in den meisten Fällen ausreicht, um fremde Rotten vom eigenen Wohnraum fernzuhalten.

2. Das Streifgebiet des Keilers wird ebenfalls von diesem geruchlich wie optisch markiert. Es kommt aber zu keiner eigentlichen Verteidigung des Reviers. Während der Rauschzeit sucht der Keiler die beschlagbereiten Bachen auf, verlässt die Rotte aber wieder, sobald keine rauschigen Bachen mehr anwesend sind. Es gibt keine tradierten Rauschplätze wie beim Rot- oder Damwild. Die Paarung findet dort statt, wo sich die Rotte gerade aufhält, egal ob Maisfeld, Eichenbestand oder Kirrung.

MUFFELWILD

Widder steht bei Schafen im Wald.

Muffelwild: Wo brunftige Schafe sind, schlägt der stärkste, gerade anwesende Widder seine Zelte auf. Foto: R. Bernhardt

Bei diesem Wild wissen wir über das Territorialverhalten praktisch nichts. Es kommt nur während der Brunft zu einem an die Schafe gebundenen Territorialverhalten der Widder. Dieses ist aber schwächer als beim Rotwild, da der Widder oft nach dem Beschlag eines Schafs auf der Suche nach weiteren brunftigen Stücken das Rudel verlässt – ähnlich dem rauschigen Keiler.

OFFENE FRAGEN zum Territorialverhalten

Interessant für unsere „Mehrartenwirtschaft“ in vielen Revieren wären Fragen zum zwischenartlichen Territorialverhalten. Wir wissen, dass verwandte Arten mit ähnlichen Ansprüchen untereinander aggressiv sein können (etwa Kohl- und Blaumeise). Bisher wissen wir aber kaum, ob Schalenwildarten, die ja auch zum Teil stark überlappende Ansprüche haben, wirklich aggressiv oder territorial auf die Anwesenheit einer ähnlichen Art reagieren. Mehrheitlich scheint es eine gewisse Grundverträglichkeit zwischen den verschiedenen Schalenwildarten zu geben. Dies schließt aber gewisse Verdrängungseffekte bei jeweils hohen Dichten einzelner Arten nicht aus.