Drückjagd zur Rauschzeit – Begegnung der besonderen Art

WildschweinAufmacher

Aus der Dickung über den Waldweg flüchtender Keiler. Seine körperliche Verfassung deutet darauf hin, dass er, was rauschige Bachen betrifft, kein Kostverächter ist. Sein Glück in diesem Moment, dass der Jagdherr keine stärkeren Sauen freigegeben hat. Foto: Stefan Meyers

Die Rauschzeit ist immer für eine Überraschung gut. Zumindest dort, wo Sauen vorkommen.Vieljäger Gert G. v. Harling hatte zwei besondere Erlebnisse mit rauschigen Keilern – und beide auf der Drückjagd. Doch lesen Sie selbst!

In den letzten Nächten war es eisig kalt gewesen und hatte gefroren. Dann folgten zwei herrliche, sonnige Tage, so recht für eine Drückjagd auf Sauen geeignet. Obwohl der Schnee bisher ausgeblieben war, klingelte früh morgens das Telefon, und freudestrahlend vernahm ich die gute Nachricht: „Sauen fest! Treffpunkt bei mir auf dem Hof um zehn Uhr!“

Das bereifte Laub knistert und bricht laut unter den Schuhen der sechs Schützen, drei Treiber und der beiden Hundeführer, als wir nach der kurzen Begrüßung und Einweisung durch den Jagdherrn vom Sammelplatz aus dem Revierteil zustreben, in den laut einem der Männer drei Stunden vorher „’ne Menge Schweine reingerannt waren“. Ich werde auf einem breiten Sandweg an die Ecke einer viele Hektar großen Kieferndickung postiert, mein Standnachbar knapp 100 Meter entfernt von mir am Rand des angrenzenden Kiefernaltholzes. Bei der Begrüßung wurde angesagt, dass geschossen werden darf, sobald der Stand erreicht ist, und ein Jäger nutzt offenbar seine Chance: Es fallen zwei Schüsse.

Durch vorsichtiges Winken und einen leisen Pfiff verständige ich mich mit meinem Nachbarschützen. Anschließend scharre ich den Erdboden um meinen Stand herum mit den Stiefelsohlen von raschelndem Laub und verräterisch knackenden Zweigen frei und mache in alle vier Himmelsrichtungen verschiedene Anschlagübungen, als käme Wild in voller Flucht heran oder zöge vertraut vorüber, suche nach verborgenen Bodenwellen, hinter denen plötzlich Wild auftauchen könnte, nach Stellen, an denen man sich mit dem Schuss etwas Zeit lassen könnte, und auch nach solchen, an denen ich im Fall des Falles blitzschnell reagieren muss, und warte dann gespannt auf anwechselndes Wild.

Da fallen in schneller Folge wieder Schüsse. Aus Richtung der Treiber erklingt aufgeregtes Rufen und steigert sich in hysterisches Geschrei. Dem offenbar heillosen Durcheinander entnehme ich Wortfetzen wie: „Achtung, Schweine nach hinten!“, „Passt uff, Ferkel!“ und „Sauen kommen!“ Die Spannung steigt, lässt jedoch allmählich wieder nach, als der Wind den Knall mehrerer Schüsse von der anderen Seite des umfangreichen Dickungskomplexes zu mir herüberweht.

Zwei Keiler kämpfen im herbstlichen Wald.

Zwei kämpfende Keiler. In der Rauschzeit sind dies unerbittliche Auseinandersetzungen, vorausgesetzt, es handelt sich um zwei ebenbürtige Kontrahenten. Solch einem Duell am helllichten Tage beiwohnen zu dürfen, ist ein Naturspektakel der besonderen Art. Foto: Stefan Meyers

EIN SCHWEIN

Eine Viertelstunde mag ich so dagestanden und vor mich hingeträumt haben, da nähert sich Hundelaut, entfernt sich aber wieder. Die Sonne ist inzwischen höher gestiegen, und es ist nicht mehr gar so kalt wie noch zu Anfang des Treibens. Über mir leuchtet durch die Zweige und Äste der hohen Bäume der Himmel in wunderschönen, blauen Färbungen. Das Laub der Eichen und das Gelb der Birken bilden mit den vielen grünen, goldenen und orangenen Farbtönen der ungezählten Büsche, Blätter und Gräser, die in der frühwinterlichen Sonne strahlen und leuchten, eine wahre Symphonie aus Gottes Malkasten, letzte prangende Pracht vor den eisigen Dezembertagen. Unsanft werde ich aus meinen nachdenklichen Betrachtungen gerissen.

Es bricht vor mir in der Dickung und ein einzelner Überläufer überfällt hochflüchtig den Weg zwischen meinem Nachbarn und mir. Der Schaft der Büchse fliegt förmlich an meine Backe, und schon krümme ich den Zeigefinger. Im Schuss rolliert der Kujel am Wegrand und verendet im gut einzusehenden Stangenholz fünf Meter von der Stelle entfernt, an der er die Kugel erhielt. Ein vielversprechender Anfang dieses Jagdtags!

DER RÜCKKEHRER

Die Treiber hatten sich längst wieder beruhigt, doch nun erschallt aus deren Richtung erneut aus erregten, lauten Männerkehlen: „Vorsicht Keiler!“, „Achtung n’ ganz Dicker!“, „Swien, Swien!“, „N’ ganz großer nach rechts!“, und ähnliches ist dem chaotischen Stimmengewirr zu entnehmen. Ich bin vorgewarnt, umfasse den Schaft der Büchse fester, und schon stürmt ein starkes Stück Schwarzwild zwischen meinem Standnachbarn und mir auf demselben Wechsel über den Weg, auf dem nur wenige Minuten vorher der Überläufer erschien. „Sauen sind wegen der Abschussrichtlinien des Lüneburger Modells nur bis zu einem Gewicht von höchstens 60 Kilogramm frei“, hatte der Jagdherr bei der Begrüßung gesagt.

Deshalb kann der schwere Keiler unbeschossen von uns seine Schwarte retten. Aber kaum hat er sich knapp 50 Gänge von uns entfernt, verhofft er urplötzlich aus voller Flucht und zieht mit tiefem Wurf, einem Hund gleich, zurück und dann zu dem verendeten Überläufer. Mein Nachbar und ich haben ausreichend Zeit, die Sau in aller Ruhe als hauendes Schwein anzusprechen: zentimeterlang, fast handbreit, ragen die blinkenden Waffen aus dem Gebrech und sind mit bloßem Auge zu erkennen.

Marlboro-Keiler nennt ein Freund von mir diese Bassen, weil ihre Gewehre lang wie Zigaretten aus dem Wurf leuchten. Vor uns steht ein Hauptschwein, wie man es in unseren Breiten wegen seiner Erfahrung, seiner Gewitztheit und heimlichen Lebensweise, wenn überhaupt, nur alle Jubeljahre einmal zu Gesicht bekommt. Der Keiler verhofft seelenruhig zwischen meinem Nachbarschützen und mir, kaum fünfzig Gänge von jedem von uns entfernt, neben dem erlegten Überläufer. Dann bewindet er ihn intensiv und umkreist ihn mehrmals, ohne sich von dem näherkommenden Treiberlärm merklich beeindrucken zu lassen. Erst als die Männer nach und nach aus der Dickung treten, einige nur noch knapp fünfzig Meter von dem Urian entfernt sind, trollt er davon.

Nach dem Drücken stelle ich beim Aufbrechen meines Überläufers fest, dass ich eine 48 Kilogramm schwere Überläuferbache erlegt habe. Sie war wahrscheinlich rauschig und hat den alten Keiler alle seine Vorsicht vergessen lassen. Auch er kam in diesem Treiben versehentlich zur Strecke, erschien dem Schützen als einzelne Sau und ohne eine Vergleichsmöglichkeit verhältnismäßig schwach. Die Wildwaage zeigte später 87 Kilogramm.

Die Diskussionen über Keiler und Kirrungen, Sauen und Suhlen, Leitbachen und Lebensweise des Schwarzwildes und besonders über das Verhalten der Sauen in der Rauschzeit nehmen beim abendlichen Schüsseltreiben kein Ende, und ich bin diesmal ausnahmsweise froh, dass ich nicht alleine auf der Jagd gewesen war, gewiss hätte mir ohne Zeugen die Begegnung niemand geglaubt.

DER KEILERKAMPF

Einladung zu einer „Waldschutzjagd“. Kaum hat mich der Wald in seine Arme genommen, kaum sitze ich an einer Dickung auf einem Drückjagdbock und bin mit meinen Gedanken allein, werden sie jäh unterbrochen. Während auf einem der Nachbarstände drei, vier Schüsse fallen, tönt es hinter mir „öff!, öff!, öff!“ Sauen! Es folgt grelles Quieken und scharfes Pusten. Heisere Schreie erklingen, laut und durchdringend. Und noch einmal, rauer, röchelnder und furchterregender. Dann herrscht bedrückende Stille.

Irgendwo fällt ein weiterer Schuss. Plötzlich wütendes Grunzen und schrilles Klagen, kein Zweifel, hinter mir kämpfen zwei Keiler, haben unbeeindruckt von Büchsenschüssen und Hundelaut im wahrsten Sinne des Wortes zu den Waffen gegriffen. Meine unter der Leiter abgelegte, schwarzwilderprobte Hündin blickt verunsichert zu mir hoch, ich schaue ebenso zu ihr hinunter und umfasse das Gewehr fester. Das beeindruckende Konzert schwillt ab, zeugt dann aber noch kraftvoller von dem Überlebenskampf, den der gewinnen wird, der als Besserer aus dem Duell, das für die Fortpflanzung seiner Art seit ewigen Zeiten von der Natur vorgegeben ist, hervorgehen wird. Erneutes, markerschütterndes Kreischen nimmt an Lautstärke zu.

Es geht über in helles Quietschen, grelles Geschrei, ähnlich wie ich es erinnere, wenn in meiner Jugend vor dem alljährlichen Schlachtfest ein Hausschwein abgestochen wurde. Unüberhörbares Stampfen auf den Erdboden, prasselndes Ästeknacken hallt durch den Bestand. Deutlich vernehme ich Schnaufen und Klappern. Die Rivalen wetzen ihre Gewehre. Tiefes, wütendes Brummen, wieder Wetzen der Gewehre, und dann ist es erneut beängstigend ruhig. Selbst die wenigen Vogelstimmen verschweigen. Gebannt starre ich an den Dickungsrand. Da erscheint eine Sau, langsam, müde, schwerfällig – krank!

Der Wurf ist voller Schweiß, ich erkenne eine weit auseinander klaffende Wunde, vom Teller bis nahezu zum Brustkern reicht sie. Kaum hat die Sau die schützende Deckung verlassen, habe ich sie im vierfachen Absehen, ein einfacher Schuss. Die Gewehre des Bassen, war er der Sieger oder der Verlierer, war er fünf, sechs Jahre alt oder älter, ich wollte sie nicht haben. Sie hätten mich stets daran erinnert, dass ich auch für den Abschuss eines todkranken Stück Wildes auf Naturschutzflächen viel Geld hätte zahlen müssen, so behalte ich das Erlebnis in besserer Erinnerung.