Rehwild und Wirtschaftswald – mehr Gelassenheit ist nötig

Unser Autor Dr. Jörg Brauneis hat seine ganz eigene Sicht der Dinge auf den Verbiss des Schalenwildes im Wirtschaftswald und führt starke Argumente an.

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Das Rehwild wird zum Übeltäter des modernen Wirtschaftswaldes gemacht. (Foto: Pixabay)

Im Januar 2018 war der Wirtschaftswald stark betroffen, denn das Orkantief Friederike zog über Deutschland hinweg und hinterließ eine Spur der Verwüstung in den Wäldern der nördlichen Mittelgebirge. Es folgten, beginnend mit der extremen Trockenheit in 2018, drei Trockenjahre. Durch langanhaltenden Wassermangel und eine von den Windwürfen ausgehende Borkenkäferkalamität, kam es zu einem großflächigen Absterben von Waldbäumen. Besonders betroffen waren Fichtenbestände der mittleren und unteren Lagen der Mittelgebirge. Riesige Kahlflächen prägen seitdem das Waldbild der Mittelgebirge besonders in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.

Katastrophe im Wirtschaftswald unbekannten Ausmaßes

Die deutsche Forstwirtschaft wurde damit von einer Katastrophe in seit Jahrzehnten nicht gekanntem Ausmaß getroffen. Die Wiederbewaldung der so entstandenen Kahlflächen soll nun aber vor allem durch die Anwesenheit des Schalenwildes im Wald gefährdet sein. So befürchtet der Deutsche Forstwirtschaftsrat gravierende ökologische und ökonomische Schäden am Wald durch negative Einflüsse, die Rehe und Rothirsche, auf die Lebensgemeinschaft Wald ausüben. Das wiederkäuende Schalenwild sieht sich dabei seitens der Forstwirtschaft gleich mit zwei schwerwiegenden Vorwürfen konfrontiert:

1.     Ökologische Schäden: Gefährdung der Artenvielfalt (Biodiversität) im Wirtschaftswald!

2.     Ökonomische Schäden: Minderung des Holzertrags und Entwertung des Waldbesitzes.

Somit scheinen Reh- und Rotwild im Natur- und Wirtschaftswald aktuell vor allem als Störfaktor mit Schadpotenzial wahrgenommen zu werden.

Was ist dran an den ökologischen Schäden und dem Verlust der Artenvielfalt im Wald durch Rehe und andere Pflanzenfresser?

In der Familie der Hirsche (Cervidae) gehören die Rehe zur Unterfamilie der Trughirsche. Die Gattung der Rehe entstand vor ca. 20 – 25 Mio. Jahren und ist damit eine der ältesten der Hirschfamilie und deutlich älter als etwa der Rothirsch. Rehe fressen somit seit fast 25 Millionen Jahren Pflanzen – und diese haben sich daran angepasst. Wissenschaftlich heißt das „Koevolution“!

Rehe sind in Deutschland flächendeckend verbreitet und können sich an fast alle Habitate anpassen. Ursprünglich sind Rehe Bewohner unterholzreicher Mischwälder, bevorzugt werden Waldrandzonen im Wirtschaftswald. Auch anatomisch sind Rehe an das Leben in dichter Vegetation angepasst. Das Gehörn der Böcke ist im Vergleich zur Körpergröße eher klein. Die Kruppe liegt höher als der Widerrist, was den Rehen eine keilförmige Gestalt verleiht. Sie sind Kurzstreckenflüchter und sprinten bei Gefahr in wellenartigen Galoppsprüngen in die nächste Deckung (meist von Hell nach Dunkel), wo sie oft regungslos verharren (Einfrieren). Typisch ist auch der sog. Nähmaschinenschritt (Anheben der Hufe bis Rumpfhöhe vor dem Wiederaufsetzen), was das Bewegen in dichter Bodenvegetation erleichtert. Rehe leben meist allein in gegen Artgenossen mit Markierungen abgegrenzten Revieren.

Äsung im Wirtschaftswald ist Trumpf

Auch in ihrer Ernährung  sind sie ganz auf Waldpflanzen eingestellt. Rehe haben einen relativ kleinen Pansen, der an die Verwertung leicht verdaulicher, eiweißreicher Nahrung angepasst ist. Sie verdauen schneller als größere Wiederkäuer und müssen daher häufiger Nahrung aufnehmen.

Typisch sind jahreszeitliche Unterschiede im Äsungsverhalten. Während im Frühjahr junge Gräser und Knospen bevorzugt werden, sind es ab Frühsommer Laubtriebe und Kräuter, im Herbst und Winter die Knospen von Gehölzen und Baumfrüchte (z.B. Eicheln), aber auch Misteln und Efeu. Einige Pflanzen – z.B. die Brombeere – werden ganzjährig sehr stark beäst. Das Spektrum der aufgenommen Pflanzen ist aber nicht nur von der Jahreszeit abhängig.

Darüber hinaus gibt es auffällige, regionale Vorlieben. So wird z.B. die Weißtanne in der Schweiz stark, auf der Schwäbischen Alp nur mäßig beäst. Hier scheinen regionale Äsungstraditionen, evtl. auch der unterschiedliche Nährstoffgehalt der Pflanzen in Abhängigkeit vom Standort eine Rolle zu spielen. Kräuter mit hohem Eiweiß- und Nährstoffgehalt werden bevorzugt.

Die Sonne macht die Knospen im Wirtschaftswald saftig

Ausschlaggebend für die Attraktivität einer Pflanze sind auch Duft- und Geschmacksstoffe. Diese sind stark vom Standort, vom Alter des Pflanzenteils und von der Besonnung abhängig. Rehe äsen besonders einjährige, besonnte Triebe. Auch viele für Menschen giftige Pflanzen werden von Rehen regelmäßig beäst (z.B. Eibe, Efeu, Tollkirsche). Durch die wechselnde Aufnahme verschiedener Pflanzen vermeiden die Tiere, dass sich giftige Konzentrationen der Pflanzeninhaltsstoffe im Tierkörper ansammeln. Dies ist sicher ein Grund für die oft als naschhaft bezeichnete Ernährungsweise der Rehe (Konzentratselektierer). In der Agrarlandschaft kommen Rehe aber auch mühelos mit wenigen Hauptäsungspflanzen zurecht.

Annahme letzter Jahrhunderte

Aufgrund ihrer geringen Größe und ihrer territorialen Lebensweise üben Rehe keinen nennenswerten quantitativen und nur einen geringen qualitativen Einfluss auf die Waldvegetation im Naturwald aus. Berichte, dass Pflanzenarten im Wirtschaftswald durch Rehwildverbiss verschwunden seien, stammen fast sämtlich aus dem vergangenen Jahrhundert, als noch der Altersklassenwald mit dunklen Beständen fast ohne Bodenvegetation die Wirtschaftswälder prägte. Solche Waldbilder sind seit der Einführung der naturnahen Waldwirtschaft fast völlig verschwunden.

Buchen als Waldgesellschaft im Wirtschaftswald

In den letzten Jahrzehnten hat sich die irrige Auffassung durchgesetzt, der reine Buchenwald sei die natürliche Waldgesellschaft in Mitteleuropa. Bis heute unterschätzen viele Botaniker den positiv lebensraumgestaltenden Einfluss großer Pflanzenfresser in natürlichen Wäldern. Diese Fehleinschätzung konnte nur entstehen, weil außer Reh- und Rotwild alle wirklich großen Pflanzenfresser in Mitteleuropa seit Jahrhunderten ausgerottet sind (Elch, Wisent, Auerochse und Wildpferd). Dies hat dazu geführt, dass sich bis heute viele Botaniker, Forstleute und Naturschützer einen naturnahen Wald als wildarm oder gar wildleer vorstellen.

Die Natur braucht das Wild

Dabei sind viele Pflanzenarten auf die Verbreitung ihrer Samen durch Huftiere im Fell oder im Kot angewiesen. Trittsiegel, Suhlen, Plätzstellen schaffen Störungen der Vegetationsdecke, die für Rohbodenkeimer wie etwa die Weißtanne ein günstiges Keimsubstrat bieten. Und zumindest bei der Wühltätigkeit der Sauen im Waldboden, dem Gebräch, die das Auflaufen der Naturverjüngung fördert, lobt auch die Forstwirtschaft die positiven Effekte von Huftieren auf die Waldvegetation. Fakt ist: Die Anwesenheit möglichst vieler, großer Pflanzenfresser im Wald ist ein direkter Beitrag zur Artenvielfalt! Die Jägerschaft darf sich im Diskurs mit Forstwirtschaft und Naturschutz auf keinen Fall eine ökologische Diskussion um die Anwesenheit von Schalenwild im Wald aufdrängen lassen. Es gibt naturgemäß keinen ökologischen Wild-Wald-Konflikt!

Welche Bedeutung hat der Verbiss an Forstpflanzen durch Rehwild?

Aber es gibt leider einen Wild-Forst-Konflikt im Hinblick auf eine möglichst rationelle Holzproduktion im Wirtschaftswald. Und was die Rehe angeht, ist dies vor allem der Verbiss von holzproduzierenden Forstpflanzen! Auf jeder neu entstandenen Kahlfläche im Wald setzt sofort eine rasant ablaufende Sukzession der Pflanzengesellschaften ein, die in der Wiederbewaldung endet. Typische Pionierpflanzen wie das Wald-Greiskraut bilden oft schon im ersten Jahr nach Räumung des Vorbestands flächige Massenbestände, die es den Rehen  ermöglichen, schon im ersten Sommer die Kahlflächen als Lebensraum zu nutzen. Die Rehe „schwimmen“ gleichsam in den Waldgreiskrautfluren wie Fische im Wasser.

Waldweidenröschen, Fingerhut & Co im Wirtschaftswald

In den folgenden Jahren entwickeln sich dann typische, pflanzensoziologisch definierte Schlaggesellschaften mit z.B. Waldweidenröschen und Rotem Fingerhut und Waldreitgras. Nach wenigen Jahren etablieren sich die Schlaggebüsche. Hier dominieren weiter z.B. Fuchskreuzkraut und Weidenröschen, zunehmend treten aber auch Pioniergehölze auf und bilden einen Vorwald aus Salweide, Zitterpappel, Vogelbeere, Birke und Holunder. Dieser Vorwald bietet günstige Startbedingungen für den Dauerwald, er ist der Blitzableiter des Wildverbisses und fördert die Verjüngung und das Aufwachsen frostgefährdeter Baumarten (Buche, Douglasie, Weißtanne und Küstentanne).

Nährboden für den Wirtschaftswald

Diese rasche Pflanzenentwicklung auf Kahlflächen ist nur möglich, weil durch Mineralisierung der Humusauflage und Verrottung des Schlagabraums (Kronenholz, Wurzelstöcke, Reisig) in großem Umfang Nährstoffe mobilisiert werden. Hinzu kommt der Stickstoffeintrag aus der Luft (in Deutschland ca. 20 – 40 kg Stickstoff / Hektar und Jahr). Mit Aufkommen von Weidenröschen, Springkraut und besonders mit dem Aufwachsen der ersten Pioniergehölze optimiert sich der Lebensraum für das Rehwild mit einem Überfluss an Äsung und Deckung. Dies bleibt so, bis der Dickungsschluss erreicht ist. Dann kommt es rasch zu einer Verknappung der Äsung, später auch der Abnahme des Deckungswerts dieser Waldpartien. Daher ist es wichtig, schon unmittelbar nach dem Räumen der Fläche auch im Rehwildrevier ausreichend Daueräsungsflächen (2-3 % der Waldfläche) einzuplanen.

Verbiss ist natürlich unumgänglich

Natürlich werden auch die auf den Kahlflächen ausgepflanzten Forstpflanzen vom Rehwild beäst, es entsteht Verbiss! Dabei werden die nährstoffreichen Baumschulenpflanzen und  stark besonnte Pflanzen bevorzugt verbissen. Allerdings lenkt die üppige, natürliche  Schlagflora den Verbiss von den künstlich eingebrachten Pflanzen ab, und auf großen Kulturflächen ist der Verbissdruck deutlich geringer als auf kleinen.

Zunächst ist der Verbiss durch Rehwild auf ein relativ enges Zeitfenster begrenzt. Pflanzen werden nur bis zu einer Höhe von etwa 1,20 m beäst. Diese Höhe dürften die meisten Forstpflanzen nach wenigen Jahren erreichen. Danach und bei den meisten Naturverjüngungen ist der Verbiss kaum ein nennenswertes Problem. Bevorzugt verbissen werden Hainbuche, Esche, Weißtanne, Eiche, Aspe, Weide. Gerne angenommen werden Ahorn, Eberesche, Linde, Fichte, Douglasie, Kiefer. Weniger verbissen werden Buche und Lärche. Erle und Birke werden praktisch nicht verbissen. Die Neigung zum Verbiss ist beim Rehwild (Konzentratselektierer) deutlich stärker ausgebildet als beim Rotwild (Mischäser/Intermediärtyp). Triebe und Knospen werden besonders im Spätherbst und Winter verbissen.

Unterschiedliche Lösungsansätze

Schutz vor Rehwildverbiss bieten natürlich Gatter! Gatter sind aber teuer, entziehen dem Wild Lebensraum und müssen wieder abgebaut werden, was in der Praxis nicht immer funktioniert (alte Gatter sind Wildfallen!). Gatter müssen auch kontrolliert werden (Sauen!). Besser ist der Einzelschutz durch Wuchshüllen. Diese haben den Vorteil, dass sie neben dem Verbissschutz den Forstpflanzen auch noch einen Schutz vor der Konkurrenzvegetation bieten. Aber auch Wuchshüllen müssen wieder entfernt werden (Plastikmüll). Alternativ kann man natürlich große Pflanzen (z.B. Heister) pflanzen, die dem Rehwildäser bereits entwachsen sind, diese sind aber teuer! Auch die Schwerpunktbejagung an verbissanfälligen Flächen trägt dazu bei, den Verbissdruck zu senken. Damit werden vorrangig die Rehe erlegt, die ihre Territorien in den kritischen Waldflächen haben. Eine Vergrämungsjagd – wie etwa beim Rotwild – ist beim Rehwild nicht möglich, denn die Tiere verlassen auch bei hohem Jagddruck ihre Territorien nicht!

Aktive Verbesserung nötig

Die Äsungssituation an Kalamitätsflächen aktiv zu verbessern ist ein bisschen, wie Holz in den Wald zu tragen. Dennoch können die Einsaat von Wegebanketten, temporär genutzten Holzlagerplätzen und Äsungsschneisen mit attraktiven Äsungspflanzen einen Beitrag zur Minderung der Verbissbelastung und zur Erleichterung der Jagdausübung leisten. Hier sei nur auf Weißklee, Rotklee, Buchweizen und Waldstaudenroggen verwiesen. Die Pflanzung und Förderung von Verbissgehölzen kann helfen, den Winterverbiss zu mindern (z.B. Weidenstecklinge). Im Winter kann man Proßholz schneiden. Masttragende Bäume sollten gefördert und gepflanzt werden.

Zeit zum Wachsen geben

Die meisten Forstpflanzen haben aber bereits nach wenigen Jahren eine Höhe von 1,20 m erreicht, dann ist der Spuk mit dem Verbiss ohnehin vorbei. Auch die Problematik der Fegeschäden dauert kaum länger. Fegeschäden entstehen im Frühjahr zur Entfernung des Basts vom Gehörn und weiter noch zur Reviermarkierung bis zur Blattzeit. Seltene Baumarten und einzeln stehende Pflanzen werden bevorzugt verfegt (z.B. Douglasie, Lärche, Küstentanne, aber auch Weide, Aspe, Holunder, Vogelbeere). Sehr häufig werden die Auswirkungen des Rehwildverbisses mit dem Schlagwort „Entmischung“ belegt, was den selektiven Verbiss bevorzugter Forstbaumarten beschreibt, die dadurch aus der Baumartenmischung verschwinden. Dies ist aber meist Folge der Konkurrenz der Baumarten untereinander und des Drucks der dichten Begleitvegetation der insbesondere Lichtbaumarten (z.B. Eichen) keine Chance lässt.

Dennoch müssen wir uns um die Zukunft des Rehwilds keine Sorgen machen!

  • Rehe leben in Deutschland (fast) flächendeckend in gesicherten Beständen – auch außerhalb des Waldes!
  • Rehe sind eine stammesgeschichtlich sehr alte und robuste Wildart. Sie ertragen  eine nachhaltige, jagdliche Nutzung auf hohem Niveau. Salopp gesagt: Sie ertragen fast jede Form der jagdlichen Misshandlung!
  • Die Verbissproblematik durch Rehe auf Forstkulturen dauert nur wenige Jahre.
  • Eine relevante Verbissproblematik bei der Naturverjüngung der Hauptbaumarten gibt es auf den allermeisten Standorten nicht.
  • Rehe werden das Aufwachsen eines artenreichen und stabilen Mischwaldes auf den Kalamitätsflächen nicht behindern!Daher haben wir allen Grund zur Gelassenheit und zu einem entspannten und respektvollen Umgang mit dem Rehwild im Wirtschaftswald.
  • Und nicht zu vergessen: die Einnahmen aus dem Jagdbetrieb werden für viele von den Waldschäden betroffenen Waldbesitzer in den nächsten Jahrzehnten die einzigen, verlässlichen Einnahmen aus dem Waldbesitz sein. Die Wildtiere sind damit auch im ökonomischen Sinn ein wichtiger Teil des Waldvermögens.