Der Traum der unberührten Wildnis – Jagdjournalist räumt auf

Der weitgereiste Jagdjournalist Jens Ulrik Hoegh erklärt, warum es kaum noch unberührte Wildnis gibt und welche Konsequenz dies für die Jagd hat.

Aufmacher

Selbst wenn man auf seinem Jagdabenteuer tage- oder wochenlang keine Menschenseele sieht, sind die allermeisten Orte doch irgendwie manipuliert – und sei es durch Beutegreiferbejagung zugunsten ihrer Beutetiere. Foto: Okapia

Der Blick vom schneebedeckten Hang des Vulkans war atemberaubend. Ich konnte den Pazifik als weiße Linie am östlichen Horizont neben sechs weiteren Vulkanen erkennen. Dünne Dampf- und Rauchsäulen erhoben sich aus nicht weniger als drei der Gipfel und enthüllten so, dass unser Planet immer noch fleißig dabei ist, die Skyline Kamtschatkas aus seinem Inneren heraus zu formen. Keine Schornsteine, keine Stromtrassen, nicht einmal ein Kondensstreifen am Himmel – die ohrenbetäubende Stille, die jedes Mal einsetzte, wenn wir die Schneemobile abstellten, wurde nur selten von dem Krächzen eines Raben unterbrochen.

Die nächste menschliche Siedlung lag hunderte Kilometer entfernt. Während meiner Woche in der Wildnis habe ich fast 1.000 Kilometer auf einem Schneemobil zurückgelegt und nur eine Menschenseele gesehen, die nicht zu unserer Jagdgesellschaft gehörte. Es handelte sich um einen alten, russischen Zobelfänger, der den ganzen Winter in der frostigen Einsamkeit verbringt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Dort gab es also kaum Menschen, aber dafür zahlreiche Elche, Vielfraße, Auerwild und Winterschlaf haltende Bären. Es fühlte sich wie die echte Wildnis an, und sicher kam dies auch von all meinen Jagdreisen bisher der unberührten Natur am nächsten.

Illusion von unberührte Wildnis

Aber: Es gab auch einmal Wölfe in Kamtschatka – und vermutlich sogar Tiger. Die großen Katzen sind schon lange verschwunden, aber die Wölfe versuchen immer wieder, die Halbinsel von Norden her zu besiedeln. Normalerweise schaffen sie es jedoch nicht, sich wirklich niederzulassen, bevor sie Jägern wie mir begegnen, die jeden einzelnen von ihnen jagen, wenn sie ihre Spuren während des Winters im Schnee verfolgen können.

Es ist eine Regierungsentscheidung, stattdessen den Elchwildbestand zu schützen. Ich habe damit kein Problem. Wölfe sind keine bedrohte Tierart, und das Elchwild, das in Kamtschatka aus Chukotka wieder angesiedelt wurde, ist wichtig für die lokale Bevölkerung. Diese aggressive Wolfspolitik enthüllt die Vorstellung von unberührter Natur jedoch als Illusion, die sie tatsächlich ist. Natürlich profitiert die Elchpopulation von den Bemühungen, die Wölfe in Schach zu halten. Es gäbe sehr viel weniger von ihnen, wenn die Wölfe nicht so gemanaged würden, wie sie es werden. Wildnis? Nein, aber dicht dran.

Geschossener Elch in Schnee

In Kamtschatka begegnet man wochenlang kaum einem Menschen. Der Wildbestand ist durch rigorose Beutegreiferbejagung aber nicht ganz natürlich. Foto: Jachim Moos

Tropische Wildnis

Ein paar Monate bevor ich dies schrieb, besuchte ich den Hwange-Nationalpark in Simbabwe. Es handelt sich dabei um ein ungezäuntes Gebiet von 1,45 Millionen Hektar. Der einzige menschliche Einfluss besteht in ein wenig Wilderei, die aber weitgehend unter Kontrolle ist, und Ökotouristen, die in Autos herumgefahren werden und Fotos von den Wildtieren schießen. Alle heimischen Raubtierarten sind noch vorhanden, und die Wildpopulation ist hoch. Hwange ist ein riesiges Gebiet ohne Jagd, ohne Zäune und kaum menschlicher Aktivität, die das Wild stört – unberührte Wildnis.

Lücke im System

Aber: Das letzte Nashorn wurde schon vor Jahrzehnten aus dem Gebiet gewildert. Eine Reihe anderer Arten, die von den Nashörnern abhängig sind, verschwanden zusammen mit der gewilderten Wildart. Andere Arten, wie der Afrikanische Wildhund, die normalerweise über große Distanzen wandern, kommen in unnatürlich geringen Zahlen vor. Sie werden vergiftet und mit Schlingen gefangen, wenn sie die Grenzen des Parks überschreiten.

Andere Arten kommen so dicht gedrängt vor, weil sie einfach keinen anderen Lebensraum mehr haben, auf dem sie sich verteilen könnten. Der Park ist – wie eine grüne Oase in einer endlosen Wüste aus wildfeindlichem Agarland – ihre einzige Option. Eine dieser Arten ist der Elefant. Momentan ist die Population doppelt so hoch wie die langfristige Tragfähigkeit des Lebensraums. Wenn die Population nicht in naher Zukunft reduziert wird, wird der Großteil des Baumbestandes bald zerstört und die Landschaft in ein viel trockeneres, wesentlich offeneres Buschland verwandelt sein, das deutlich geringere Wildtierpopulationen beherbergen kann.

Kudu in Busch

Gewinner: Relativ stationäre Arten wie der Kudu profitieren von großen Schutzgebieten ohne Zäune. Foto: Jen Ulrik Hoegh

Rudel Wildhunde im Busch.

Verlierer: Wildhunde, die weite Strecken zurücklegen, sind hingegen durch Schlingen und Gift außerhalb des Reservats bedroht. Foto: Jens Ulrik Hoegh

All dies passiert aufgrund menschlicher Aktivität – wenn nicht im Park selbst, dann in den Gebieten drumherum. Auch diese Wildnis ist weit weg davon, unberührt zu sein. Gibt es die echte Wildnis also überhaupt noch? Leider nicht wirklich – zumindest nicht auf dem Festland. Vermutlich kommt man ihr in den abgelegenen Gegenden nahe der Pole am nächsten, allerdings gibt es dort auch nicht viel Leben, das man noch erleben könnte. Der Rest der irdischen Welt ist – bis zu einem gewissen Grad – von menschlichen Aktivitäten beeinflusst. Aber welchen Einfluss hat das auf die Jagd?

Kulturlandschaft

Europa ist vermutlich der kultivierteste Kontinent unseres Planeten. Trotzdem – oder gerade deshalb – haben wir viele Jagdmöglichkeiten. Die Wildarten, die in unseren Revieren hauptsächlich vorkommen, sind jene, die von der intensiven, modernen Landwirtschaft profitieren.

Wir wären nicht in der Lage, über eine Million Stück Rehwild in Deutschland zu erlegen, wenn es sich bei der deutschen Natur um echte, unberührte Wildnis handeln würde. Ich bezweifle sogar, dass nachhaltig auch nur zehn Prozent davon geschossen werden könnten. Das Land würde nicht genug hergeben, und Luchs und Wolf würden die Populationen ohnehin zumeist niedrig halten.

Jeder, der das nicht glaubt, sollte einmal in die tiefen, wildnisartigen Wälder Kanadas oder Russlands vordringen, um selbst zu erleben, wie dünn die Wildpopulationen in solchen Gebieten sind, in denen Raubwild viel häufiger vorkommt als in unseren Wäldern.

Wildnis für Niederwild

Dahingegen würde es viele Niederwildarten in der Wildnis besser gehen als in unserer Kulturlandschaft. Teils aufgrund des natürlicheren Lebensraums, teils weil menschliche Aktivität für viele natürlich vorkommende Beutegreiferarten wie Fuchs, Krähen, Elster, Möwen und auch Neozooen wie Mink, Waschbär, Marderhund und Hauskatze förderlich sind. Vermutlich war es in Mitteleuropa noch nie so schwierig, sich beispielsweise als Birkhahn zu behaupten. Im Großteil der USA ist die Situation mit der in Europa vergleichbar. Arten, die mit Kulturlandschaften, Verkehr und Verstädterung klarkommen, sind häufig. Es gibt genügend jagdbares Wild in der Kulturlandschaft, die wir Natur nennen.

Wilde Jagderfahrung

Natürlich gibt es immer noch wilde Orte auf unserem Planeten, die wir als Jäger erleben können. Größere Gebiete relativ unberührter Wildnis und kleiner Flecken hier und da – vor allem in schwer zugänglichen Regionen wie Gebirgen oder Wüsten. In diesen Gebieten zu jagen, ist immer ein Abenteuer, und die Wilddichte – wenigstens in den kalten und gemäßigten Breiten – ist sehr viel geringer als in unseren typischen europäischen Revieren. Aber genauso, wie ich es in Kamtschatka erlebt habe, ist es vermutlich unmöglich, ein wirklich unberührtes Jagdrevier irgendwo auf der Welt zu finden.

Dieser romantische Traum ging in Flammen auf, als unsere Vorfahren begannen, das Land zu bewirtschaften anstatt zu jagen. Während die Weltbevölkerung wächst, wird es immer offensichtlicher, dass sich die Natur gemeinsam mit uns verändert. Wir müssen für unser Handeln auf die ein oder andere Weise Kompensation schaffen, wenn wir einen Teil der Natur für zukünftige Generationen erhalten wollen.

Jäger schläft zwei geschossenen Rehen.

Rehwild ist so häufig bei uns, weil es von unserer europäischen Kulturlandschaft stark profitiert – anderenfalls würden wir nur einen Bruchteil der Strecken erlegen. Foto: Jens Ulrik Hoegh

Der Hauptunterschied zwischen den augenscheinlichen Wildnisgebieten und den europäischen Jagdrevieren ist, dass das Hauptmanagementziel in der Anzahl der Beutegreifer begründet liegt. Mir ist keines der sogenannten Wildnisgebiete bekannt, in dem man nicht zumindest versucht, die Raubwildpopulationen wie die des Wolfs zumindest zu dezimieren, um einen halbwegs hohen Pflanzenfresserbestand zu hegen. Besonders außerhalb Europas und in Teilen der Vereinigten Staaten werden Wölfe besonders intensiv bejagt, um ihre Bestände zu kontrollieren – Russland, Kanada, Alaska und die meisten zentralasiatischen Bergstaaten bejagen Wölfe. Einige dortige Wildbiologen halten eine deutliche Reduktion der Wolfsbestände für sinnvoll, und teils haben die Behörden Prämien ausgesetzt.

Der unvermeidliche Zaun

Ich bin sicher, es wird viele überraschen, dass ich einige der natürlichsten Jagdgebiete hinter hohen Zäunen erlebt habe – besonders in Südafrika. Natürlich sind die Zäune selbst etwas Unnatürliches, aber die Natur dahinter unterscheidet sich nicht von der hinter natürlicheren Barrieren, wie etwa die See, die eine Insel umgibt.

Das Interessante an solchen Zäunen ist, dass sie den Effekt von angrenzenden Gebieten reduzieren. Die meisten Tiere verlassen das Gebiet nicht, und nur wenige gehen ein und aus, wie es ihnen passt. Wilderer und Rinderfarmer haben keinen Zutritt. Wenn das Gebiet groß genug ist, trägt es selbst Raubwildpopulationen.

Es gibt auch in Simbabwe solche Jagdgebiete. In kleineren Gebieten ist es jedoch beispielsweise nicht praktikabel, Großprädatoren und Elefanten zu halten. Das ist zwar auch nicht natürlich, aber für all die anderen Wildarten macht es kaum einen Unterschied, ob als Hauptbeutegreifer Menschen oder Löwen fungieren. Allein in Südafrika gibt es rund 10.000 solcher gezäunten Naturreservate – die sich vor allem durch die Bejagung finanzieren.

Landschaft der Savanne

Elefanten gehören zu den großen Pflanzenfressern, die ihren Lebensraum erheblich beeinflussen. Hier sieht man, wie stark die Bäume der Region unter dem Äsungsverhalten der Dickhäuter gelitten haben – weit entfernt von Wildnis. Foto: Jens Ulrik Hoegh

Erhalt durch Landnutzung

Dieses Prinzip der Landnutzung resultiert vor allem aus der Jagd und kann so Populationen hervorbringen, die sich nahe am Rand der natürlichen Tragfähigkeit des Lebensraums bewegen – in Europa hingegen müssen zudem auch noch landwirtschaftliche Kulturen vor Wildschaden geschützt werden. Um eine lange Geschichte abzukürzen, die großen, gezäunten Gebiete haben das Potential, sehr nah an einen Naturzustand zu kommen, allerdings nicht ohne menschliches Zutun.

Meine Meinung ist, dass man das Beste aus zwei Welten hinter einem Zaun vereinen kann, wenn man es richtig macht: ein Maximum an Biodiversität in Kombination mit vielen Jagdmöglichkeiten. Natürlich ist der Zaun hässlich – aber kein Wild, wie außerhalb des Zauns, ist noch viel hässlicher. Ich glaube, dass diese gezäunten Gebiete eine wichtige Funktion im Erhalt der Biodiversität für die Zukunft übernehmen werden. Nicht nur in Afrika, sondern auch in anderen dichtbesiedelten Regionen – inklusive Europa.

Wir werden auch in den zukünftigen Jahren noch einige Jagdgelegenheiten in unseren europäischen Kulturlandschaften haben, aber viele Wildarten brauchen unberührtere Rückzugsorte, um sich sicher in die Zukunft zu retten. Wir Jäger werden eine wichtige Rolle in dieser Gleichung übernehmen, denn alle bisherigen Bemühungen haben gezeigt, dass sie sich praktisch nur in die Tat umsetzen lassen, wenn Jäger beteiligt sind.