Die Jägersprache bedenkt die adulten weiblichen Stücke Rotwild mit dem Begriff „Alttiere“ und stellt die Altersfrage so ganz beiläufig. Aber wie alt kann so ein Alttier werden? Die Lebenserwartung von Rotwild hängt von vielen Faktoren ab. Das biologisch mögliche Alter wird durch unterschiedlichste Faktoren vorzeitig begrenzt. Jagd, Straßenverkehr, Großraubwild, landwirtschaftliche Maschinen oder Krankheiten sind wesentliche Todesursachen.
In der Literatur wird das Höchstalter mit ca. 16 bis 20 Jahren angegeben. Schottische Studien beschreiben ein Alttier mit sagenhaften 31 Jahren. Im „Buch der Hege“ vermutet Stubbe, dass die wenigsten Stücke ein solches Alter erreichen. Der limitierende Faktor ist für ihn dabei die Zahnabnutzung. Diese ist meist schon ab 14 Jahren soweit fortgeschritten, dass der Nahrungsbedarf nicht mehr ausreichend gedeckt werden kann.
Wie alt sind Alttiere im Rotwild wirklich?
Für Alttiere wird weiterhin beschrieben, dass alte Stücke meist nur noch unregelmäßig und schwache Kälber führen. Doch ist das wirklich so? In der Praxis schaut man selten auf das tatsächliche Alter erlegter Alttiere. Dennoch ist hier die Altersstruktur in der Population mindestens genauso wichtig wie bei Hirschen. Und wer das Rätselraten bei der Altersbestimmung der Hirsche kennt, der weiß, warum man es sich bei den Alttieren oft spart, das Alter genauer zu bestimmen. Die Abschliffmethode kann selbst erfahrene Jäger in die Irre führen.
Die einzige wirklich zuverlässige Methode ist das Zahnzementzonenverfahren. Dieses Verfahren sollte man in der jagdpraktischen Arbeit stärker nutzen. Auch Hegegemeinschaften, die ihren Hegeauftrag wirklich ernst nehmen, sollten diese Methode häufiger verwenden. Die Entwicklung und Lebenserwartung von Tieren kann man auch bei markierten Stücken beobachten. Telemetriestudien zeigen zudem interessante Einblicke in die Habitatnutzung.
Forschung trifft Jagdpraxis

Das enge Streifgebiet des Alttieres „KK“ im Jahr 2006. 2022 wurde es dort verendet gefunden. © Thünen-Institut
Seit über 20 Jahren werden am Thünen Institut für Waldökosysteme in Eberswalde Satellitentelemetriestudien an Rotwild in unterschiedlichen Lebensräumen durchgeführt. Allein im Thüringer Wald wurden in Gemeinschaftsarbeit mit vielen Beteiligten über 60 Stücke Rotwild besendert und beobachtet. Viele interessante Ergebnisse sind dazu schon veröffentlicht und fanden Berücksichtigung bei jagdrechtlichen Entscheidungen.
Ein Beispiel ist die Jagdzeitenverkürzung im Rahmen der Intervallbejagung im Landeswald (Rotwildeinstandsgebiete ThüringenForst) auf den Zeitraum August bis Dezember. Hierdurch gewährt man dem Rotwild eine jagdfreie Zeit von sieben Monaten. Dies ist ein wichtiger Schritt in einem zeitgemäßen Jagdkonzept. Weniger Jagddruck bedeutet weniger Stress und damit auch weniger unerwünschten Verbiss. Und schon der Altmeister V. RAESFELD schrieb vor über einhundert Jahren: „Sorge für Ruhe und gönne dem Wild die vollen Jahre zu seiner nötigen Entwicklung“. Gemeint ist hier, im Sinne einer gesunden Altersklasseneinteilung genügend Stücke einer Population alt werden zu lassen.
Was Alttiere über das Rotwild lehren
Ein Beispiel aus der Praxis zeigt, wie auch unser heimisches Rotwild noch überraschen kann. Im Februar 2006 wurde im Thüringer Forstamt Frauenwald ein junges Alttier besendert. Zur besseren Wiedererkennung bekam es das Sichthalsband mit den Buchstaben „KK“. Damit war es bis zuletzt individuell erkennbar. Bei Markierung wurde es als dreijährig eingeschätzt. Im Februar 2022 fanden Wintersportlern dieses Alttier verendet.
Ausgehend davon, dass es im Sommer 2006 mindestens 3 Jahre alt war, erreichte es ein Alter von 19 oder 20 Jahren. Dies bestätigte auch die Zahnschliffuntersuchung. Es war ein standorttreues Alttier und lebte in einem Streifgebiet von gut 500 Hektar in einem Umkreis von ca. 2×3 Kilometern. Der Halsbandsender lieferte leider nur ein gutes halbes Jahr Ortungsdaten, aber bis zuletzt konnte man das Alttier in diesem Gebiet regelmäßig beobachten oder auf Wildkamerabildern identifizieren. Das Kerngebiet seiner Raumnutzung war ca. 200 ha groß.
Erfahrung stärkt das Rotwildrudel

Beide noch jung an Jahren: der Autor beim Besendern des Alttiers „KK“ im Februar 2006. © Thünen-Institut
Bis ins Jahr 2021 konnte dieses Alttier als führend bestätigt werden. Dies zeigt, dass Alttiere bis ins hohe Alter Kälber setzen und führen können. Es mahnt aber auch zum angewandten Elterntierschutz, denn das Prädikat „altes Gelttier“ wird oft schnell vergeben. Anhand dieses beeindruckenden Alters kann man sich auch vorstellen, welchen Erfahrungsschatz dieses Alttier angesammelt hat. Oft wird es mit dieser Erfahrung sein Rudel aus dem Treiben geführt haben, bevor der erste Schütze überhaupt auf seinem Sitz war.
Auch wenn die Wichtigkeit eines Alttiers immer wieder in Frage gestellt wird, der Schutz des führenden Alttiers ist für das Kalb weit über die Laktationsphase hinaus wichtig. Rotwild ist eine hochentwickelte und ausgesprochen sozial lebende Tierart. Das Sozial- und Lernverhalten sichert wichtige Rahmenbedingungen für die Überlebensfähigkeit des Kalbes.
Wie Alttiere im Rotwild ihre Kälber prägen
Der renommierte Wildbiologe Wölfel bezeichnete die Führung des Kalbes durch das Alttier einst als „psychische Nahrung“. Grundlagen für diese Einschätzung bildeten seine umfangreichen Beobachtungen an handaufgezogenen Rotwildkälbern. Wölfel zeigte, wie sich Kälber durch ihre Umwelt und die soziale Stellung des Muttertiers entwickeln, wie sich eine Rangordnung ergibt und wie die Sinne eingesetzt werden. So sind Größe und Ausformung des ersten Geweihs eines Schmalspießers weniger aussagefähig über die künftige Entwicklung des Kopfschmucks als vielmehr ein Zeugnis der sozialen Stellung des Muttertiers im Rudel.
Verwaiste Rotwildkälber leiden bei Verlust des Alttiers wegen der damit verbundenen sozialen Isolation, da sie vom Rudel ausgestoßen werden bzw. keinen oder nur sehr selten Anschluss an ein anderes Alttier oder Kahlwildrudel finden. Sie kümmern. Durch diese Isolation sind sie psychisch und physisch so belastet, dass sie auch in guten Lebensräumen eingehen können.
Führung und Fürsorge über das erste Jahr hinaus
Das Alttier ist über das erste Lebensjahr hinaus für das Kalb bzw. Schmaltier hinsichtlich der sozialen Führungsrolle wichtig und damit zur Aufzucht notwendig. Der Wildbiologe Wagenknecht nennt für das „Selbstständigwerden“ des Rotwildes das Ende des ersten Lebensjahres. Wegen der kümmernden Entwicklung verwaister Kälber unterstreichen auch Praktiker den Grundsatz, Alttiere nur dann zu erlegen, wenn vorher das dazugehörige Kalb erlegt wurde. Besonders auf Bewegungsjagden ist dies sehr anspruchsvoll, aber unbedingt notwendig.
In einer Studie von Hettich und Hofmann untersuchten die Wildbiologen zwischen 2017 und 2020 sieben Alttier-Kalb-Paare mittels Sender hinsichtlich ihres Bindungsverhaltens. Gezielt provozierte man Störsituationen. Dabei zeigte sich eine nahezu ununterbrochene, enge Bindung zwischen Alttier und Kalb bis zum Mai des Folgejahres. Bei drückjagdähnlichen Störsituationen stellten die Wissenschaftler in 16 Prozent der simulierten Ereignisse eine längere Trennung von Alttier und Kalb fest. Es war hierbei teilweise egal, ob Treiber oder hoch- und mittelhochläufige Hunde eingesetzt wurden.
Alttiere im Rotwild: Muttertierschutz bei der Drückjagd
Was kann man daraus für die Praxis lernen? Für Bewegungsjagden ist eine zeitlich begrenzte Freigabe einzeln ziehender Alttiere und eine zeitlich gestaffelte Beunruhigung der Einstände sinnvoll. Ziel muss es sein, Muttertierschutz und Jagderfolg aufeinander abzustimmen. Die zeitlich begrenzte Freigabe einzeln gehender Alttiere nach Uhrzeit ist dabei ein wichtiger Baustein. Innerhalb eines vorher vereinbarten Zeitraums kann in einer ersten Phase eine Beunruhigung im Bereich der Einstände durch Treiber erfolgen, die jedoch nicht ins Innere von Dickungen eindringen.
Ebenso sollten in dieser Phase ausschließlich kurzläufige Hunde eingesetzt werden. Durch diese Herangehensweise wird eine Trennung von Alttier und Kalb weitestgehend ausgeschlossen. Wird anschließend der Druck erhöht und alle Hunde geschnallt, sind Alttiere nur noch frei, wenn vorher das zugehörige Kalb durch denselben Schützen erlegt wurde. Grundvoraussetzung ist dabei natürlich, dass die eingeladenen Schützen Rotwild auch sicher ansprechen können oder zumindest so wesensfest sind, sich auch zurückzuhalten.
Verantwortung in der Rotwildjagd
Zusammenfassend erscheint es unter wildbiologischen Gesichtspunkten nicht möglich, innerhalb des Jagdjahres einen Zeitraum festzulegen, in dem die Erlegung von Alttieren ohne gleichzeitige Erlegung des dazugehörigen Kalbes hinsichtlich des Elterntierschutzes generell unbedenklich wäre. Die hohen Anforderungen an das Tierwohl in unserem Land darf man bei unseren Wildtieren nicht ausblenden. Zudem müssen wildbiologische Erkenntnisse bei jagdrechtlichen Entscheidungen ideologiefrei Berücksichtigung finden.
Viele wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass auch die ältesten Alttiere noch führen können. Daher darf es bei der Bejagung von Alttieren keinen Tierschutz zweiter Klasse geben. Es ist sehr viel Wissen über den Umgang mit Rotwild vorhanden, nur muss man auch die Bereitschaft fördern und fordern, dieses Wissen in der jagdlichen Praxis anzuwenden.






