Rehwild – wie viele Rehböcke haben Platz?

Der gute Jährling vom letzten Jahr bleibt verschwunden. Doch wo ist er hin? Unser Autor Patrick Bollrath sucht in der Biologie des Rehwildes nach Antworten.

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Ob das Rehwild ausreichend Einstand und Äsung findet, hängt von der jeweiligen Habitatkapazität ab. Foto: Pixabay/artellliii72

Sicherlich ist es die Hauptwildart vieler, doch wie viel Rehwild findet im heimischen Revier seinen Platz? Und welche Faktoren spielen dabei eine Rolle?

Ist Rehwild anspruchslos?

Der Mai bzw. in manchen Bundesländern auch schon der April, ist der Beginn der Jagdzeit auf Böcke und Schmalrehe. Rehwild ist in Deutschland das meist bejagte Schalenwild. Über 1,2 Mio. Stück Rehwild wurden im Jagdjahr 2021/22 in Deutschland erlegt. Rehe sind in nahezu jedem Revier vorhanden und werden dort auch bejagt. Fast jeder Jäger, der ein Revier oder einen Begehungsschein sein Eigen nennen kann, hat also die Möglichkeit, auf Rehwild zu jagen. Rehwild ist nicht allzu schwer zu bejagen, hat auf den ersten Blick keine speziellen Lebensraumansprüche, ist meist gut sichtbar und die Biologie ist den meisten Menschen oberflächig vertraut. So weit so gut. Wenn man jedoch noch tiefer in den Lebenszyklus des Rehwildes eintaucht und den aktuellen Wissenstand der Wildtierforschung mit einbezieht, findet man erstaunliche neue Erkenntnisse. Diese mögen dem geübten Praktiker im Revier bereits hier und da aufgefallen sein, dennoch ist es lohnenswert, die wissenschaftlichen Studien einmal genauer zu betrachten. Es gibt über unser Rehwild eine überschaubare Anzahl an Studien, die sich mit dem Verhalten oder der tatsächlichen Raumnutzung des Rehwildes befassen. Bevor wir uns die Biologie um die Raumnutzung des Rehwildes genauer anschauen, gilt es einige grundlegende Begriffe klarzustellen. Ellenebrg (1978) hat diese Begriffe in seiner Arbeit zur Populationsökologie des Rehwildes gut verständlich beschrieben.

Der wissenschaftliche Einstand – die „Homerange”

Die „Homerange“ eines Tieres ist das Gebiet, in dem sich dieses über eine bestimmte Zeit im Normalfall aufhält. Verlässt ein Reh, das im Gegensatz zu allen anderen Schalenwildarten als sehr ortstreu gilt, seine Homerange vorrübergehend, um einen anderen Bereich in einer gewissen Entfernung aufzusuchen, wird dies als „Exkursion” bezeichnet. Man kann Exkursionen als gelegentliche, räumliche Ausreißer betrachten. Ein „Territorium” hingegen ist der Bereich, der gegen Artgenossen, egal ob männlich oder weiblich, über eine bestimmte Zeit verteidigt wird. Die Homerange bezeichnet also in der Jägersprache den Einstand sowie die Flächen, auf denen das Rehwild auf Nahrungssuche geht. Eine Exkursion findet vornehmlich durch Ricken während der Paarungszeit oder durch junge Stücke, die ihre Nachbarschaft nach einem freigewordenen Habitat auskundschaften, statt. Die „Territorialität“ ist meist bei mehrjährigen Böcken gegeben, wenn diese ein bestimmtes Revier markieren und gegen andere Böcke verteidigen.

Eine Frage der Größe

Wie groß ist also die durchschnittliche Homerange eines Bockes oder einer Ricke? Hier findet man in der Wissenschaft verschiedene Zahlen, die jedoch genau zu begutachten sind. Ein markiertes Reh, das zuvor eine Homerange von vielleicht 15 ha hatte und auf einmal auf der komplett anderen Seite des Revieres auftaucht, hat nicht automatisch ein Einstandsgebiet von 200 ha. Hier handelt es sich entweder um eine Exkursion dieses Stückes oder um die Neubesetzung eines freigewordenen Gebietes im Zuge einer Exkursion. Alle Zahlen, die man in der Literatur zur Homerangegröße des Rehwildes findet, liegen zwischen sieben und 40 ha. Auf die Größe des von einem Stück genutzten Bereiches haben viele Faktoren eine Auswirkung. Sind die Äsungsflächen weiter vom Einstand entfernt, vergrößert sich auch der Bereich, den das Rehwild nutzt. Findet es in unmittelbarer Nähe zu seinem Einstand oder sogar im Einstand selbst ausreichend gute Äsung, kann die Homerange aber durchaus auch sehr klein ausfallen.

Mehr Wild, kleinere Reviere fürs Rehwild

Ebenfalls spielt die Wilddichte eine entscheidende Rolle. Sind alle umliegenden Habitate mehr als gut besetzt, führt dies zu innerartlicher Konkurrenz um Nahrung und sorgt in diesem Fall auch für kleinere Homeranges. Generell ist zu sagen, dass die Territorien von Böcken etwas größer sind als die der Ricken. Über alle Rehe gesehen dürften die genutzten Bereiche zwischen 15 und 20 ha groß sein. Böcke nutzen in ihrer territorialen Zeit vom Frühjahr bis zu Brunft in der Regel einen Bereich zwischen 20 und 30 ha. Feldrehe auf extrem großen landwirtschaftlichen Flächen bilden hier eine Ausnahme. Wenn diese Rehe nur auf  einem 150 ha Schlag zu finden sind und dieser in der Regel nicht verlassen wird, könnte man diesen auch als Homerange bezeichnen. Ausnahmen bestätigen auch hier immer wieder die Regel, da Rehe meist einen sehr individuellen Charakter haben und somit Vorlieben für bestimmte Bereiche an den Tag legen. Ebenso stellte Ellenberg (1978) fest, dass sich über die Wintermonate die Homerange beider Geschlechter deutlich vergrößerte und aufgrund der Sprungbildung deutliche Überschneidungen mit den anderen Individuen der Spezies Reh aufwies.

Winterwanderer Rehwild

Über das Jahr kommt es auch beim Rehwild zu saisonalen Wanderungen. Diese Wanderungen können je nach örtlicher Begebenheit deutlich variieren. Hauptzeiträume dieser sind Mitte November bis Mitte Dezember sowie im April bis Mai  (Cagnacci et al. 2011). Auch sind sie sehr eng an den Lebensraum und die Individuelle Verhaltensweise der einzelnen Stücke gebunden. Im Bereich der Alpen oder in Norwegen zum Beispiel, wanderten laut der Studie von Cagnacci et al. (2011) 52% beziehungsweise 47% der Rehe über die Wintermonate in andere Bereiche ab. Der Restbestand blieb vor Ort. In gemäßigteren Lagen wie den südlichen Teilen Schwedens oder Frankreichs wandern gar keine oder nur 12 % der Rehe über die Wintermonate in andere Bereiche ab.

Gene wandern

Ein anderes Wanderverhalten ist landläufig bei Jährlingen und Schmalrehen zu beobachten. Dieses Wanderverhalten wird auf die Vermeidung von Inzucht zurückgeführt. Diese würde  zwangsläufig entstehen, wenn die Jungtiere den Bereich des Muttertieres nicht verlassen würden. Doch auch in diesem Fall streut die Abwanderungsrate zwischen 23% und 100% erheblich. Jedoch zeigen Untersuchungen, dass weder der Anteil der abwandernden Jungtiere, noch die Abwanderungsdistanz im Zusammenhang  mit der Populationsdichte stehen (Gaillard et al. 2008). In Schweden wurde jedoch herausgefunden, dass die Körpergröße einen hohen Einfluss darauf hat, ob junge Stücke abwandern oder in der Nähe der Homerange ihres Muttertieres bleiben (Wahlstrom and Liberg, 1995). Besonders die körperlich starken einjährigen Stücke wandern  in neue Gebiete. Für Schmalrehe konnte bislang noch keine fundierte Erklärung gefunden werden, warum ausgerechnet die Exemplare mit guter Konstitution abwandern. Bei starken Jährlingen liegt die Vermutung nahe, dass diese bereits von den territorialen Böcken als Konkurrenten wahrgenommen werden und deswegen besonders vehement aus ihrem alten Einstand vertrieben werden. Der Revierwechsel wird also manchmal auch durch den Platzbock erzwungen.

Während der Blattzeit im Juli und August kommt richtig Bewegung in die Einstände. Foto: Pixabay/sharkolot

Blattzeit macht mobil

Zur Blattzeit kommt es bei allen Altersklassen zu mehr oder minder stark ausgeprägtem Wanderverhalten. Entgegen der landläufigen Meinung, dass nur die Böcke zum Ende der Blattzeit nach noch unbeschlagenen Ricken suchen, zeigt sich in der Wissenschaft ein anderes Bild. Insbesondere Jährlinge sind in der Blattzeit auf der Suche nach Ricken, welche nicht von einem territorialen Bock beansprucht werden. Böcke, die ein festes Revier haben, gehen in der Regel kaum auf Wanderschaft. Schmalrehe und Ricken wandern jedoch gezielt in benachbarte Bockreviere, um sich von dem dort lebenden Bock beschlagen zu lassen.

Schlüsse für die Bejagung

Wie gehen wir also mit diesem Wissen bei der kommenden Bockjagd vor? Rehwild ist häufig mehr in Bewegung als wir vermuten und die Populationsdynamik ist nicht zu unterschätzen. Wie viele Böcke also in ein Revier passen oder wann welcher Bock abwandert, liegt nicht in unserer Hand. Wir können versuchen, die Homerange der mehrjährigen Böcke zu erkunden und ihr Verhalten zu verstehen, um sie zu erlegen oder an einer geeigneten Stelle auch einmal alt werden zu lassen. Im Mai gilt es vorrangig der Jugendklasse und hier insbesondere den Schmalrehen. Wenn Sie einen starken Jährling sehen, welcher im nächsten Jahr unauffindbar ist, haben sie nun vielleicht eine Information mehr, warum ausgerechnet dieser  junge Bock verschwunden ist.