Lebensraum des Rotwildes – Studie auf dem Truppenübungsplatz

Auf dem bayerischen Truppenübungsplatz Grafenwöhr wurden mehrere Stücke Rotwild besendert, um herauszufinden, wie sie in welcher Jahreszeit ihren Lebensraum nutzen. Prof. Dr. Dr. Sven Herzog, Marcus Meißner und Horst Reinecke stellen die zum Teil überraschenden Ergebnisse der Telemetriestudie kurz vor.

RotwildPanzer

Truppenübungsplatz Grafenwöhr: Störungsarme Freiflächen sind das Be- sondere. Etwa die Hälfte der Zeit verbringt das hiesige Rotwild in diesem Lebensraum. Foto: Sven-Erik Arndt

Der Truppenübungsplatz Grafenwöhr ist mit seinem hohen Freiflächenanteil ein nahezu idealer Lebensraum für Rotwild. Die besonderen Bedingungen sind Grundlage für einen vergleichsweise hohen Bestand. Neben der Landschaftsstruktur gibt der militärische Übungsbetrieb den Rahmen für Forstwirtschaft und Jagd vor. Der besonderen Eignung als Rotwildlebensraum stehen auf großer Fläche die Notwendigkeit eines stabilen Schutzwaldes und in großen Teilbereichen auch das Ziel einer rentablen Forstwirtschaft gegenüber. Für den Bundesforstbetrieb ist ein zielorientierter Umgang mit dem Rotwild daher von hoher betrieblicher Bedeutung.

Um waldbauliche Zielvorstellungen realisieren zu können, ist eine Minimierung des Rotwildeinflusses auf die Waldvegetation erforderlich. Anders als in der Kulturlandschaft stehen dem Rotwild durch die weitgehende Störungsfreiheit weite Teile seines Lebensraums ganztägig zur Verfügung. Hier bieten sich Ansätze für ein lebensraumorientiertes Rotwildmanagement. Der Bundesforstbetrieb setzt daher seit Längerem auf eine räumliche Lenkung des Bestands auf Basis positiver und negativer Erfahrungen der Tiere. Aufgabe des Projekts war es, dieses System zu überprüfen und Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung zu liefern.

In den Jahren 2008 bis 2010 wurden daher insgesamt 29 Stück Rotwild beiderlei Geschlechts auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr mit GPS-Sendern ausgestattet. Die Geräte der Firma Vectronic Aerospace/Berlin ermitteln neben der Position über einen Aktivitätssensor die Intensität der Bewegung. Die Daten erlauben eine Unterscheidung von Aktivitäts- und Ruhephasen. Die Immobilisation der Stücke erfolgte mit Fanganlagen und im Einzelfall durch das Narkosegewehr.

Die Senderlaufzeiten der Stücke fielen sehr unterschiedlich aus. Zum Teil reduzierten Beschädigungen oder das Verenden der Stücke die Sendedauer. Insgesamt lieferten 17 Stücke (7 Hirsche, 10 Alttiere) voll auswertbare Datensätze mit einer Laufzeit von mehr als einem Zeitjahr. Als zusätzliche Referenz standen Daten aus Telemetrieprojekten in Schleswig-Holstein (intensiv genutzte, stark zersiedelte Kulturlandschaft) und dem Nationalpark Kellerwald-Edersee (Großschutzgebiet, Buchenwald) zur Verfügung.

Hirsche sind weitläufiger

Die Auswertung der Lebensraumnutzung zeigte, dass der Raumbedarf des Rotwildes im Jahresverlauf auf Basis der Streifgebiete landläufig überschätzt wird. Zur Ermittlung von Streifgebietsgrößen stehen verschiedene Methoden zur Verfügung. Die gängigsten Methoden (MCP, KDE) überschätzen die Größe der real genutzten Fläche erheblich. Die hier gewählte Methode (LoCoH) liefert demgegenüber ein relativ genaues Bild der tatsächlich aufgesuchten Fläche und gleichzeitig einen Überblick über die Nutzungsintensität.

Von den 17 vollständig auswertbaren Stücken konnten 27 Jahresstreifgebiete (einige Stücke konnten über zwei, drei Jahre ausgewertet werden) berechnet werden. Die mittlere Größe der Streifgebiete lag bei 213 Hektar für Alttiere und 716 Hektar für Hirsche. Die jeweils im Jahresverlauf genutzte Fläche fällt damit vergleichsweise klein aus. Insgesamt zeigten sich große individuelle Unterschiede in Abhängigkeit vom Alter bei den Hirschen, bei den Tieren eher in Bezug auf den Lebensraum. Hierbei entfiel die Hälfte der Ortungen eines Jahres (die 50 Prozent mit der höchsten Dichte) nur auf eine mittlere Fläche von 34 Hektar bei Alttieren und 75 Hektar bei Hirschen. Die Hälfte der Zeit nutzen die Stücke so eine Fläche von nur etwa 10 bis 20 Prozent des Jahresstreifgebiets. Diese stark schwerpunktorientierte Lebensraumnutzung bestätigte sich auch in den anderen Untersuchungsgebieten.

Tiere sind standorttreuer

Die Stücke zeigten eine hohe Konstanz in der Raumnutzung. Die Streifgebiete deckten sich von Jahr zu Jahr zu 75 Prozent bei den Hirschen und zu 88 Prozent bei den Tieren. Die Kernbereiche überlappten bei Alttieren immerhin zu 74 Prozent, bei den Hirschen jedoch nur zu 53 Prozent, wobei ein erheblicher Teil hiervon auf den Nahbereich der Winterfütterung entfiel. Hirsche waren somit in der Wahl ihrer Nutzungsschwerpunkte deutlich flexibler als Tiere.

Grafik von Zugsgebiet von Alttier Nora

Grafik: Marcus Meissner

Ränder des Lebensraum werden bevorzugt

Die Alttiere zeigten ausgeprägte individuelle Bevorzugungen, was die Lebensraumausstattung mit Wald und Offenland anbetrifft. Der Waldanteil an den Jahresstreifgebieten bewegte sich zwischen 32 und 89 Prozent. Das Spektrum reichte so von Individuen mit klarer Vorliebe für das Offenland bis zu solchen mit eindeutiger Bevorzugung geschlossener Waldflächen.

Im Winter wurde die Raumnutzung stark von der Fütterung geprägt. Zur Untersuchung der fütterungsunabhängigen Lebensraumnutzung wurde die Zeit von April bis Oktober herangezogen und hierfür Streifgebiete berechnet. Die Sommerstreifgebiete aller Stücke über den Untersuchungszeitraum bestanden sowohl im Gesamtstreifgebiet wie auch in den Kernbereichen jeweils grob zur Hälfte aus Wald und Grünland, nur etwa zehn Prozent entfielen auf Sukzessionsflächen. Das ausgeglichene Verhältnis von Wald und Offenland in den intensiv genutzten Kernbereichen belegt, dass die Stücke auch kleinräumig Bereiche mit einem hohen Anteil an offenen Flächen und somit auch mit zahlreichen Randlinien bevorzugen. Tagsüber wurden verstärkt deckungsreiche Lebensraumteile genutzt. Ortungen im Wald konnten verstärkt passiven Verhaltensphasen zugeordnet werden, was die Funktion des Walds als Rückzugs- und Ruheraum unterstreicht.

Besenderter Rothirsch in Wald.

Besenderter Rothirsch: Von Jahr zu Jahr wird sich sein Streifgebiet um lediglich 25 Prozent verändern. Zumindest, wenn er ein Durchschnittshirsch ist. Foto: Marcus Meissner

Im Offenland dient insbesondere das Grünland auf dem Truppenübungsplatz als hochwertige Äsungsfläche. Die Nutzungsintensität ist im April, im Juni und zur Brunft am höchsten. Unabhängig von den Lebensraumvorlieben der Stücke orientierte sich die Offenlandnutzung stark an den vorhandenen Randlinien. Auch kleinere Strukturelemente sind zur Feindvermeidung eine wichtige Einflussgröße für die Nutzung offener Flächen.

Hauptsächlich aktiv

Die Aktivitätsdaten erlauben eine Unterscheidung der Verhaltensmuster „Ruhe“ und „Aktivität“. Die Stücke zeigten eine sehr ähnliche Tagesrhythmik, während die Muster zur Nachtzeit individuell sehr unterschiedlich ausfielen. Die jahreszeitliche Entwicklung des Anteils aktiver Verhaltensweisen eines Tages zeigte eine starke Reduktion der Aktivität ab Ende Dezember bis zu einem markanten Jahrestief im Spätwinter. Im April, im Frühsommer und zur Brunft waren dagegen bei beiden Geschlechtern die größten Anteile aktiver Verhaltensweisen am Tagesverlauf zu beobachten.

Kahlwild bildet den Kern

Das Raum-Zeit-Verhalten und die Lebensraumnutzung der besenderten Stücke lassen zahlreiche Ansatzpunkte für das Management des Rotwildbestands auf verhaltensbiologischer Grundlage erkennen. Unabhängig von den besonderen Rahmenbedingungen auf dem Truppenübungsplatz liefern die Projektergebnisse und auch ein Abgleich mit der wissenschaftlichen Literatur verschiedene Aspekte, die darüber hinaus von genereller Bedeutung für den jagdlichen Umgang mit diesem Wild sind. Die Art, wie Alttiere ihren Lebensraum nutzen, verdeutlicht, dass sie das Kernelement eines lebensraumbezogenen Rotwildmanagements sind. Im Unterschied zu den Hirschen haben Tiere einen klaren, tradierten Flächenbezug und eine enge Anbindung an den mütterlichen Familienverband. Einmal erworbene Nutzungsmuster haben (unter stabilen Umweltbedingungen) meist ein Leben lang Bestand.

Von wegen gleich verteilt im Lebensraum

Die schwerpunktorientierte Lebensraumnutzung schließt die gleichmäßige Verteilung eines Rotwildbestands über seinen Lebensraum aus. Dieser konzentriert sich in den attraktiven Bereichen. Sowohl auf individueller Ebene als auch im Sozialverband ist eine starke Konzentration auf relativ kleinen Teilflächen zu beobachten. Hier entwickelt der Bestand somit auch den höchsten Äsungsdruck auf die Vegetation. Das Ausmaß von Schäden in der Forstwirtschaft wird somit weniger von der Höhe des Gesamtbestands in einem Lebensraum, sondern vielmehr von der lokalen Dichte bestimmt. Aufgrund der unterschiedlichen Ursachen und Hintergründe muss zwischen den Schadarten Verbiss und Schäle differenziert werden, ebenso zwischen den ursächlichen Wildarten bei Verbissschäden. Beim Rotwild wird die Schadenssituation direkt von den Lebensraumvorlieben und Raumnutzungsmustern geprägt und lässt sich daher durch die großräumige Abschusshöhe nur eingeschränkt beeinflussen. Eine räumliche Verteilung des Abschusses entsprechend der regionalen forstwirtschaftlichen Zielsetzungen hat dagegen unmittelbar Auswirkungen auf die örtliche Nutzungsintensität der Waldvegetation.

Rotwild wird besendert.

Besenderung: Neben dem Anlegen des Senders werden geschätztes Alter und Kondition notiert. Foto: Marcus Meissner

Hirsche sind empfindlicher

Die Lebensraumnutzung von Rotwild kann wirksam beeinflusst werden. Der Kahlwildbestand ist beim Rotwild keine homogene Masse. Jedes Tier verfügt über einen individuellen Erfahrungsschatz, besitzt genau definierbare Raumnutzungsmuster und repräsentiert somit auch bestimmte Lebensraumbevorzugungen. Jagd wirkt sich daher durch die Entnahme von Individuen direkt auf die räumliche Verteilung und die Lebensraumpräferenzen im überlebenden Bestand aus. Rotwild lässt sich daher in seiner Lebensraumnutzung räumlich lenken. Hirsche reagieren auf Basis ihrer räumlichen Flexibilität auf positive oder negative Veränderungen des Lebensraums stärker. Sie lassen sich durch jagdliche Störung vertreiben, werden jedoch andererseits von Steigerungen der Lebensraumattraktivität angezogen.

Auch bei den Tieren kann durch Aufwertung des Lebensraums und Verbesserung seiner Verfügbarkeit das Raum-Zeit-Verhalten positiv beeinflusst werden. Streifgebietsübergreifende räumliche Veränderungen sind dagegen aufgrund der engen Bindung an ihren Lebensraum teils nur generationsübergreifend möglich. Jagdliche Eingriffe in den Kahlwildbestand bieten die Chance, sowohl die (forstwirtschaftlich wirksame) lokale Dichte, vor allem aber auch die Lebensraumvorlieben im Bestand effektiv zu beeinflussen.

Abschließendes Fazit

Die Projektergebnisse zeigen, dass Rotwildjagd im Frühsommer oder generell eine Bejagung auf potenziellen Äsungsflächen kontraproduktiv für eine Vermeidung von Schäden im Wald sind. Kern eines lebensraumorientierten jagdlichen Rotwildmanagements müssen lokal angepasste Konzepte sein, die verstärkt verhaltensbiologischen Aspekten und vor allem der Raumnutzung der jeweiligen Stücke Rechnung tragen.